Irgendwo muss man ja wohnen by Nils Heinrich

Irgendwo muss man ja wohnen by Nils Heinrich

Autor:Nils Heinrich [Heinrich, Nils]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carlsen Verlag, Hamburg
veröffentlicht: 2012-02-16T23:00:00+00:00


Blind Date

Ich hatte den Verlobungsring dabei. Weißgold mit einem kleinen Diamanten, ganz was Feines und gar nicht mal so billig. Wir würden am Abend fein ausgehen, schick essen. Ich hatte mich von Kopf bis Fuß in Schale geworfen. Ich hatte die Benutzeroberfläche des Nils komplett auf Hingucker getunt und meinen Oberkörper in ein gutes Sakko aus Metzingen gesteckt. Eine glanzvolle Hose mit allesschneiderscharfen Bügelfalten und seriöse Schuhe, in denen man sich spiegeln konnte, rundeten mein konkurrenzlos geschmackvolles Erscheinungsbild ab. Nur noch die kreisrunde Brille aufgesetzt, und ich sah aus wie dieser äußerst beliebte blutjunge ehemalige adlige Bundeswirtschaftsminister aus Franken, der danach sehr schnell Ex-Verteidigungsminister wurde. Der Guttenberg, der Typ mit den vielen Vornamen, dessen Taufe damals so lang gedauert hat, dass seine Haare immer noch ganz nass sind.

Alles sollte stimmen, wenn ich meiner Herzdame am Abend die alles entscheidende Frage stellte.

Mein Plan war perfekt gewesen. Die Einladung zum Essen war zwar wieder mal von ihr gekommen, aber ich wollte heute wenigstens mal so richtig kontern, mit der Einladung namens »Verlobung«.

Und nun saßen wir im Dunkelrestaurant.

Das hatte ich mir im Vorfeld ganz anders vorgestellt.

Wer nicht weiß, was ein Dunkelrestaurant ist, dem sei es hier kurz erklärt: Man sieht nichts, und doch soll man das, was man nicht sieht, essen. Unsichtbares Essen, mit unsichtbarem Besteck von einem unsichtbaren Teller, den man in der Dunkelheit nicht trifft. Absurd. Man weiß außerdem gar nicht, was man da für ein Essen essen soll, das man nicht sieht. Das wird einem vorher nämlich nicht verraten.

Man weiß auch gar nicht, ob das, was man mit dem Besteck bearbeitet, überhaupt das Essen ist. Man weiß auch gar nicht, wo der Sitznachbar gerade seine Hände hat.

Man ahnt nur: Wenn das Essen schreit, während man mit Messer und Gabel was davon abschneidet, dann ist das nicht das Essen.

Wenn man dann seinen Sitznachbarn im Dunkelrestaurant trotzdem weiter zerkleinert, weil man sein Schreien nicht hört, dann ist man ein Tauber, der sich im Dunkelrestaurant von Blinden bedienen lässt.

Und wenn einem der Sitznachbar bis jetzt mit seiner unverletzten Hand noch keine gescheuert hat, dann nur, weil er nicht sieht, wo man sitzt.

Man ist plötzlich ganz groß darin, Sachen zu hören. Man hört plötzlich Dinge, die man gar nicht hören will.

Ich hörte links neben mir ein rhythmisches Knacken in Höhe meiner Ohren. Angereichert mit einem zweiten Geräusch: Ein Spatz, der winzige Gummistiefel trägt, taperte im Vierviertel-Takt durch kleine Schlammpfützen, die immer tiefer werden. Dann erklang das Geräusch eines Abflussrohres und letztendlich glaubte ich den dumpfen Aufprall eines Altkleidersackes auf einer Bodenturnmatte zu vernehmen.

Mein Nachbar aß.

Und ich hörte alles.

Mein Nachbar schlürfte auch. Mit diesem sattfeuchten Geräusch, das ein iPhone erzeugt, wenn es an einem heißen Tag nach einem langen Telefonat von der nassgeschwitzten Gesichtshälfte abgezogen wird.

Ich konnte sogar hören, wie seine Bauchspeicheldrüse mit einem tiefen »Mahlzeit!« ihre Nachtschicht begann. Problem: Ich konnte nicht einfach weghören.

Wenn man jemandem beim Essen zuguckt, kann man sich irgendwann wegdrehen, dann sieht man den nicht mehr.

Aber im Dunkelrestaurant muss man zuhören. Man kann sich wegdrehen, wie man will; aber die Ohren, diese Körperstasi, richten sich wie Satellitenschüsseln immer neu aus und empfangen weiter.



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